Heilpädagogik unterstützt Kinder mit Förderbedarf ganzheitlich.
Von Angelika Lonnemann.
Als Marie-Sofie (Name geändert) vier Wochen vor dem Geburtstermin per Kaiserschnitt wegen des Verdachts auf Schwangerschaftsvergiftung geholt werden musste, da war sie bereits krank. Sie litt an Unterzucker und hatte keinen Saugreflex, lag im Brutkasten und brauchte eine Magensonde für die Ernährung. Im Alter von vier Wochen wurde sie dann mit ihrer Mutter nach Hause entlassen – die hat ihre Milch abgepumpt und versucht, die Tochter mit der Flasche sechs Mal am Tag zu ernähren. Vor jeder Mahlzeit musste die Mutter den Blutzucker messen. “Diese ersten Monate waren für mich furchtbar, ich hatte mir das Leben mit meinem ersten Kind ganz anders vorgestellt”, berichtet die Mutter heute. Sie wurde depressiv, bekam dann täglich Besuch von einer Tagesschwester des Bunten Kreises, die sie psychisch wieder aufbaute.
In der Kinderkrippe fiel Marie-Sofie auf, weil sie verträumt und abwesend schien, weil sie kaum Körperspannung und keine Kraft hatte und mit offenem Mund da saß. “Ich bin dann mit ihr zum Kinder- und Jugendpsychiater und dann ging die Springerei los”, berichtet die Mutter. Ergotherapie wurde verschrieben und zusätzlich eine heilpädagogische Therapie empfohlen. Durch diese Therapie, die inzwischen seit knapp zwei Jahren läuft, konnte Marie-Sofie viel aufholen von dem, was ihr in ihrer Entwicklung verglichen mit Gleichaltrigen fehlte. “Sie kann inzwischen mit der Schere schneiden, und wenn sie einen Menschen malt, dann hat der jetzt einen Körper und an der Hand sind die fünf Finger dran”, sagt die Mutter der heute Fünfeinhalbjährigen. Die behandelnde Heilpädagogin arbeitete vor allem mit Marie-Sofie im Kindergarten – einerseits in der Gruppe, andererseits auch in einem Nebenraum allein mit ihr. Bei allen Besprechungen zwischen Eltern und Erziehern war sie dabei, führte einen Teil der Therapie auch in ihrer eigenen Praxis durch, wo die Mutter die Tochter dann hinbrachte.
Trotz der Heilpädagogik hatte Marie-Sofie noch große Schwierigkeiten, sich längere Zeit zu konzentrieren. “Maximal 15 Minuten konnte meine Tochter mit Interesse bei der Sache bleiben, egal ob beim Spielen oder beim Vorlesen”, berichtet die Mutter. Am liebsten wollten die Eltern, die beide vollzeit berufstätig sind und ein Haus und einen Garten versorgen, das Kind zurückstellen lassen, weil es sich abzuzeichnen schien, dass das Kind mit diesen Schwierigkeiten auf die Förderschule geschickt würde – aber der Psychiater hat ihnen abgeraten. “In einem Jahr würde das Problem bei unserer Tochter das Gleiche sein, hat er uns prognostiziert”, so die Mutter. “Wir haben keinen Ausweg mehr gewusst. Ein IQ-Test hat Marie-Sofie eine normale Intelligenz mit einer schnellen Auffassungsgabe attestiert, wenn sie sich konzentriert. Und dann trotzdem Förderschule?” Schweren Herzens haben sich die Eltern daher vor zwei Wochen dafür entschieden, Ritalin zu geben. Das Ergebnis sei jedoch überwältigend. Die Impulsivität der Tochter habe nachgelassen, sie sei aufmerksamer, strukturierter und könne sich konzentrieren. Zwar gebe es die Nebenwirkung der Appetitlosigkeit, die jedoch im Laufe des Tages abnehme.
Auch in der Familie Petralski (Name geändert) gibt es Erfahrungen mit ADHS, Ritalin und der Heilpädagogik. Auch in dieser Familie sind beide Eltern ganztags berufstätig, hier jedoch gibt es drei Kinder. Der Älteste, der zehnjährige Julian (Name geändert), bekommt seit über vier Jahren sein Medikament, das den gleichen Wirkstoff wie Ritalin beinhaltet. Bei ihm wurde mit fünf Jahren die Diagnose ADHS ausgestellt. Das Jugendamt bewilligte der Familie die heilpädagogische Therapie. “Meinem Sohn und uns Eltern hat diese Therapie so gut getan”, berichtet die Mutter. “Die Heilpädagogin ist wie eine erwachsene Freundin für Julian. Er vertraut ihr, kann ihr alles sagen.” Durch die heilpädagogische Therapie hat Julian gelernt, wie er sich beherrschen kann und wie er etwas ignorieren kann. “Er hat einen besonderen Gerechtigkeitssinn und reagiert sehr empfindlich auf vermeintlich falsche Beschuldigungen”. Durch die Therapie habe ihr Sohn auch Gelernt, dass er über seine Gefühle sprechen kann. “Früher hat er hysterisch reagiert und konnte nicht formulieren, dass ihm etwas nicht gefällt. Jetzt kann er offen sagen, wenn ihm etwas nicht passt”. Auch die Schlafstörungen, unter denen Julian früher litt, sind verschwunden. “Ich weiß gar nicht, wo er jetzt wäre, wenn er die Therapie nicht gemacht hätte – Ich staune regelmäßig darüber, in was für ein Kind er sich verwandelt hat.” Das Medikament für sich allein hätte diese Erfolge nicht gezeigt, ist sich Anja Petralski sicher. Denn der Sohn hätte durch die Therapie erst gelernt, wie er mit seiner Krankheit umgehen könne. Die Familie hat auf Empfehlung der Therapeutin zum Beispiel auch einen Boxsack angeschafft, an dem er sich zu Hause austoben kann.
Die Heilpädagogik ist ein Spezialgebiet der allgemeinen Pädagogik für Menschen mit erschwerten Lebensbedingungen. Dabei bietet sie Menschen mit beispielsweise körperlichen, geistigen oder auch seelischen Beeinträchtigungen ein Bezie-hungs- und Begleitungsangebot an und setzt bereits auch da schon an, wo Menschen von Beeinträchtigungen oder Behinderungen bedroht sind. Heilpädagogen werden an Fachschulen oder Fachakademien (Bayern), Hochschulen oder Universitäten ausgebildet. Bundesweit gibt es ca. 25.000 Heilpädagogen.
In der jüngsten Geschichte hat die Heilpädagogik einen rasanten Wandel von der einstigen – symbolisch gesprochenen – Grundversorgung der “Sorgenkinder” hin zur Begleitung beeinträchtigter Menschen auf ihrem Weg zu selbstverständlicher Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfahren. Heilpädagogen sind in zahlreichen Handlungsfeldern wie der Unterstützung und Begleitung von erwachsenen Menschen mit Behinderungen, der Frühförderung, Kinder-und Jugendhilfe, im Schuldienst und zunehmend auch der Altenhilfe tätig. Heilpädagogen arbeiten heute insbesondere mit Kindern und Jugendlichen mitSprach- und Entwicklungsverzögerungen, Autismus oder ADHS, körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen oder Traumatisierungen. Zudem arbeiten sie mit erwachsenen Menschen mit sogenannter geistiger und/oder körperlicher Behinderung sowie zunehmend mit alten Menschen mit dem Schwerpunkt Demenz. Methoden heilpädagogischen Handelns sind unter anderem: Wahrnehmungsförderung und sensorisch-integrative Förderung; Spielförderung, heilpädagogische Spieltherapie, Elemente aus dem Psychodrama; heilpädagogische Entwicklungsbegleitung; Verhaltensmodifikation; Psychomotorik, Rhythmik; auch Werken, Gestalten und Musizieren. Heilpädagogen handeln systemisch und beziehen die Lebenswelt eines Klienten mit ein. Beratung und Empowermentdes Umfeldes eines Klienten sind daher integraler Bestandteil heilpädagogischer Handlungsansätze. Die Abrechnung der Leistungen von heilpädagogischen Einrichtungen, Diensten und Praxen erfolgt in der Regel über die kommunalen Träger der Eingliederungshilfe sowie der Hilfen zur Erziehung (Jugend- und Sozialämter). In einigen Handlungsfeldern werden heilpädagogische Leistungen über die gesetzliche Kranken- oder Pflegeversicherung abgerechnet.
Weitere Informationen zum Thema Heilpädagogik: Berufs- und Fachverband Heilpädagogik (BHP) e.V.